Salzburger Jahrbuch für Philosophie 2025
SCHWERPUNKT – FRIEDEN UND KRIEG
VERANTWORTUNG FÜR DEN FRIEDEN. Hans Jonas’ Beitrag zu einer bedrängenden Frage der Gegenwart, Michael Bongardt
Hans Jonas gilt als ein bedeutender Vordenker eines aktuellen Begriffs von Verantwortung. Man sollte vermuten, dass sein „neuer Imperativ“, der die künftige Möglichkeit „echten menschlichen Lebens“ zum Kernpunkt der Ethik erklärt, auch für Fragen von Krieg und Frieden relevant ist. Eine erste Sichtung seines Werks zeigt, dass er diese Thematik kaum bearbeitet hat (1). Deshalb gilt es im zweiten Teil meines Beitrags, Jonas’ Verständnis von Verantwortung genau zu rekonstruieren (2). Damit ist das Fundament gelegt, auf dem im letzten Teil des Beitrags erneut die Frage nach Krieg und Frieden aufgegriffen wird. Dabei wird in einer „verschränkten“ Lektüre von Jonas und der Charta der Vereinten Nationen deutlich, dass beide Perspektiven und deren philosophische Hintergründe sich wechselseitig bereichern können (3).
DAS POLITISCHE DES KRIEGES, Philipp Gisbertz-Astolfi
Bei aller begrifflichen Präzision in den Debatten zur Ethik des Krieges ist es auffällig, dass der zentrale Begriff, der Untersuchungsgegenstand des ganzen Feldes, nämlich der Begriff des Krieges nicht analysiert und präzisiert wird. Obgleich dies zum Teil aus methodischer Überzeugung geschieht, liegt hierin ein sowohl allgemein-philosophischer und insbesondere auch ein ethischer Mangel. Dieser Artikel fokussiert sich auf eins der Begriffsmerkmale des Krieges, nämlich den besonderen politischen Charakter des Krieges. An exemplarischen historischen Theorien, nämlich den Theorien von Cicero, Kant und Clausewitz, wird dieses besondere Politische aufgezeigt und dann begriffsanalytisch konkretisiert. Die besondere politische Dimension des Begriffs des Krieges liegt, wie gezeigt wird, darin, dass dieser stets einen Kampf um Letztentscheidungskompetenz bzw. politische Herrschaft zum Gegenstand hat. Schließlich wird skizzenhaft der Mehrwert einer solchen Klärung für ethische Debatten veranschaulicht.
SCHELERS KRIEGSPHILOSOPHIE UND DIE SCHWIERIGKEIT, PHILOSOPHISCH ÜBER DEN KRIEG ZU SPRECHEN, Karl-Heinz Lembeck
Es kann kaum überraschen, dass Krieg auch ein philosophisch relevantes Thema ist. Umso irritierender ist es jedoch, dass es in der zeitgenössischen Philosophie offenbar nur wenige Beispiele für eine ernsthafte Auseinandersetzung damit gibt. Der folgende Text betrachtet diese Frage aus zwei verschiedenen Perspektiven. Die erste Perspektive ist eher historischer, die zweite systematischer Natur. Zunächst wird Schelers Kriegsphilosophie als relevantes Beispiel für philosophische Aussagen zum Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht, da sie für diese Zeit als repräsentativ gelten kann. Bei der Scheler-Lektüre soll insbesondere der Zusammenhang zwischen systematischen Prinzipien und historischen Ereignissen hervorgehoben werden, während zugleich auf die Gefahren einer möglichen Instrumentalisierung philosophischer Reflexion hingewiesen wird. Dies mag erste Einblicke liefern, warum die Philosophie angesichts der Herausforderungen des Krieges zu versagen scheint. Der zweite (phänomenologische) Teil des Artikels wendet sich dann der fraglichen „Sache selbst“ zu, um nach weiteren Gründen zu suchen, warum die Philosophie an der Analyse des Kriegsphänomens zu scheitern droht. Es ist anzunehmen, dass solche Gründe weniger in ideologischen Vorurteilen als vielmehr im Phänomen selbst liegen. Die These lautet hier, dass Krieg etwas erreicht, was der traditionellen Philosophie zufolge eigentlich nicht möglich ist: Er führt dazu, dass das menschliche Subjekt „aus seiner Welt fällt“. Dies wäre jedoch ein Ereignis, das nicht mehr Gegenstand philosophischer Forschung sein kann, weil sich die Philosophie stets auf die grundlegende Beziehung zwischen Mensch und Welt konzentriert hat und nicht auf deren Verlust.
KRIEG UND FRIEDEN. Einige ideengeschichtliche Erkundungen, Herfried Münkler
Krieg und Frieden können als Gegensatzpaar gefasst, aber auch in einem Wechselverhältnis zueinander begriffen werden, etwa so, dass der Frieden mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Krieg führt und der Krieg die Revitalisierung der Republik als bürgerpartizipative Ordnung bewirken kann. Die beiden Aggregatzustände des Politischen stehen demnach in einem strukturellen Ursache-Wirkung-Verhältnis, das sich einer steuernden Wahl durch die Politik entzieht. Im Gegensatz dazu findet sich in der Ideengeschichte seit Homer auch eine strikte Entgegensetzung von Krieg und Frieden, angesichts derer Einzelpersonen wie Staaten Präferenzentscheidungen über Krieg und
Frieden treffen können. In dieser Denktradition steht der Frieden höher als der Krieg. Das ist indes mit der Vorstellung verbunden, dass der Frieden gestiftet werden muss, was heißt, dass kriegsähnliche Konstellationen der Normalzustand im Umgang der Menschen miteinander sind. Diese Hobbes’sche Grundannahme wird hier unter Anziehung jüngerer Befunde von Archäologie und Ethnologie diskutiert. Danach ist davon auszugehen, dass die prägnante Entgegensetzung von Krieg und Frieden an die neolithische Revolution – die Sesshaftwerdung von Menschengruppen infolge von Ackerbau und Viehzucht – gebunden ist. Die daran anschließende Debatte über Kriegsursachen und Friedenschancen wird anhand von Überlegungen bei Platon und Thukydides sowie den Aufklärern und frühen Soziologen nachgezeichnet. Abschließend werden imperialer und zwischenstaatlicher Frieden einander gegenübergestellt und die Beständigkeit wie die politische Ausformung beider analysiert.
FRIEDE UND TOLERANZ, Heinrich Schmidinger
Dass sich Friede und Toleranz in der Gesellschaft gegenseitig bedingen, ist eine relativ junge Einsicht. Es gibt sie in Europa nicht vor der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Danach wird diese Erkenntnis vor allem im Zusammenhang mit den Theorien vom ‚Gesellschaftsvertrag‘ während des 18. Jahrhunderts diskutiert. Die Deklarationen der Menschenrechte im Rahmen von staatlichen Verfassungen bedeuten diesbezüglich jedoch keinen Durchbruch. Im Gegenteil: Vor allem die Verkündigung der Gleichheit aller Menschen schafft die Voraussetzung für neue Formen der Intoleranz und des Krieges. Die einflussreiche Lehre von Gewaltfreiheit und Toleranz von Mahatma Gandhi bildet eine zentrale Antwort auf diese Herausforderung. Auch die Idee des Friedens- und Toleranz-Projekts Europa steht in diesem Zusammenhang. Die philosophisch wichtigste Theorie, die darauf reagiert, bildet die „Theory of Justice“ von John Rawls, die in exemplarischer Weise die Verbindung von Frieden und Toleranz neu denkt.
MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE, GERECHTIGKEIT UND DER CAPABILITY APPROACH, Gottfried Schweiger
Die gegenwärtige politische Philosophie weist eine bemerkenswerte Leerstelle auf, wenn es um die normative Betrachtung von minderjährigen Flüchtlingen geht – eine Lücke, die angesichts der besonderen Vulnerabilität dieser Gruppe und der damit verbundenen moralphilosophischen Fragen überrascht. Während die philosophische Literatur zu Flucht und Migration in den letzten Jahren exponentiell angewachsen ist, bleiben Kinder und Jugendliche in diesem Diskurs weitgehend unsichtbar, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass weder in den einschlägigen Sammelbänden zur politischen Philosophie der Migration noch in den Standardwerken der Kindheitsphilosophie diesem Thema substantielle Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese Arbeit unternimmt den Versuch, die Gerechtigkeitsansprüche von minderjährigen Flüchtlingen aus der Perspektive des Capability Approach zu explizieren, wobei insbesondere die zeitlichen und räumlichen Dimensionen dieser Ansprüche in den Blick genommen werden sollen – Dimensionen, die, wie sich zeigen wird, für das Verständnis der spezifischen Vulnerabilität und der daraus resultierenden normativen Forderungen von zentraler Bedeutung sind.
WIE ÜBER KRIEG NACHDENKEN?, Clemens Sedmak
Der Beitrag geht der Frage nach einer Ethik des Nachdenkens über den Krieg nach: Wie über Krieg nachdenken? Krieg ist eine Disruption von Lebensvollzügen, die als solche ernst zu nehmen ist. Im ersten Schritt werden Beispiele für philosophische Antworten auf Disruptionen (etwa Auschwitz, Fukushima, COVID-19 Pandemie) angeführt; dann wird der Blick auf Reaktionen ukrainischer Philosophinnen und Philosophen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gerichtet. Im dritten Schritt werden Ergebnisse eines Forschungsprojekts (Interviews mit ukrainischen Philosophen und Philosophinnen) vorgestellt. Zuletzt werden vier Eckpunkte einer Ethik des Nachdenkens über den Krieg bedacht: (1.) Anerkennung der disruptiven Gewalt; (2.) Zumutung der Realität in dichten Beschreibungen; (3.) normative Anhaltpunkte zu lebensformgestaltender Orientierung; (4.) Arbeit an einer langfristigen Perspektive.
Freie Beiträge
„INTERKULTURELLE PHILOSOPHIE IST KEINE PHILOSOPHIE“. Eine Auseinandersetzung mit Kritik und neuen Perspektiven im Feld interkulturellen Philosophierens, Franz Gmainer-Pranzl und Barbara Schellhammer
Bewusst greift der Titel dieses Beitrags eine oft geäußerte Kritik an interkultureller Philosophie auf: sie sei eigentlich gar keine „richtige Philosophie“. Es ginge nur um eine Inszenierung des Exotischen oder um eine Aneignung des Fremden, wie es heißt. Diese Kritik ist Anlass, um über Sinn und Selbstverständnis des Projekts interkulturellen Philosophierens nachzudenken. Interkulturelle Philosophie, so die These dieses Beitrags, ist einfach Philosophie, die eine besondere hermeneutische Selbstreflexivität in Bezug auf ihren kulturellen Kontext aufweist; sie kritisiert einen gesellschaftsvergessenen Kulturalismus ebenso wie identitäres Denken, entwickelt global orientierte
Intellektualität und arbeitet interdisziplinär, ohne ihre genuin philosophische Methode aufzugeben. Als konkrete Praxisfelder interkultureller Philosophie werden die Zeitschrift Polylog (Wien), das Projekt „Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive“ (Hildesheim) sowie die Arbeit des Zentrums für Globale Fragen (München) vorgestellt.
Rezensionen
Jens Peter Brune, Wolfgang Strengmann-Kohn (Hg.) (2024), Menschenwürde und Existenzminimum: Wie passt das zusammen?
von David Jost, Bonn
Nikita Dhawan (2024), Die Aufklärung vor Europa retten – Kritische Theorien der Dekolonisierung
von Heinrich Schmidinger, Salzburg
Hans Joas (2025), Universalismus – Weltherrschaft und Menschheitsethos
von Heinrich Schmidinger, Salzburg
