Salzburger Jahrbuch 2024

Salzburger Jahrbuch für Philosophie 2024

SCHWERPUNKT – VETRAUEN

 

VERTRAUEN ALS BEZIEHUNGSKATEGORIE UND TOR ZUM LEBEN, Emmanuel J. Bauer

Vertrauen und Angst sind wie Seismografen, die äußerst feinfühlig auf die gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren. Bestimmen politische Unsicherheit, Intransparenz, Lüge, Polarisierung, wirtschaftliche Krisen oder persönliche Schicksalsschläge das Leben, sinkt das Vertrauen und steigt die Angst. Misstrauen und Angst unterbinden den guten Fluss des Lebens und schränken es ein. Die existentielle Gegenkraft zu Angst und Unsicherheit ist das Vertrauen. Doch was ist Vertrauen aus philosophisch-existenzanalytischer Sicht? Es ist ein vielschichtiges, sensibles Phänomen, vor allem eine Beziehungskategorie und existentiell verwoben mit Glauben, Liebe, Zuversicht und Hoffnung. Vertrauen erweist sich als unentbehrliche Grundkraft des Lebens. Es öffnet den je eigenen Lebenshorizont und lässt den Menschen mutig die Zukunft gestalten. Ohne Vertrauen ist kein freies, authentisches Leben bzw. keine ursprüngliche Lebendigkeit im Leben möglich. In diesem Sinn ist Vertrauen der Schlüssel zum Leben und die innere Kraft der Hoffnung und der Zuversicht.

EPISTEMOLOGIE DES VERTRAUENS. Praktische Metaphysik im Anschluss an Kant und Habermas, Martin Breul

Vertrauen ist eine Grundkategorie des religiösen Glaubens. Zugleich ist die Praxis des Vertrauens komplex: Vertrauen kann nicht wie eine Wissensüberzeugung durch Evidenzen allein gerechtfertigt werden, noch ist Vertrauen allein eine Sache des Willens. Angesichts dieser komplexen Ausgangslage entwerfe ich in diesem Beitrag eine „Epistemologie des Vertrauens“: Ich argumentiere dafür, dass Vertrauen notwendig mit vernünftigen Gründen verknüpft ist, ohne dass die Praxis des Vertrauens eine Sache der Vernunft allein wäre. Vertrauen geht nicht ohne, aber auch nicht ausschließlich mit Vernunft. Daher geht die Praxis des Vertrauens notwendig mit einem Risiko der Enttäuschung einher, die auch dem religiösen Glauben eingeschrieben ist. Um diese These zu untermauern, untersuche ich zunächst das Konzept des Vertrauens und unterscheide drei Komponenten, die den Vertrauensbegriff konstituieren (1). Sodann wende ich mich der kantischen Postulatenlehre zu, um konkrete praktisch-vernünftige Gründe für eine Praxis des Vertrauens zu entwickeln (2). In einer kritischen Auseinandersetzung mit den Einwänden Jürgen Habermas’ gegen die kantische Postulatenlehre zeige ich ihre zeitgenössische religionsphilosophische Relevanz (3), bevor ich den Grundgedanken der kantischen Transformation des Begründungsmodus metaphysischer Aussagen im Programm einer „Praktischen Metaphysik“ aufgreife, welches ich abschließend skizziere (4). So zeigt sich: Glaube ist ein Akt des Vertrauens – und bedarf gerade deshalb der vernünftigen Rechtfertigung.

DER VERLUST DES VERTRAUENS IN DIE GEMEINSAME REALITÄT, Thomas Fuchs

Der Aufsatz charakterisiert zunächst das epistemische Vertrauen, das wir in andere und in die gemeinsame Realität setzen, und das auf einem frühkindlich erworbenen Grundvertrauen beruht. Davon ausgehend untersucht er das Phänomen der Verschwörungstheorien, die aus dem Verlust des epistemischen Vertrauens resultieren und letztlich der Reduktion einer überfordernden Komplexität dienen. Schließlich analysiert der Aufsatz die Strukturen der medialen und virtuellen Welten, die das Misstrauen in allgemein geteilte Überzeugungen begünstigen und damit auch zu einer wachsenden Fragmentierung der Gesellschaft beitragen.

WIE SOZIALE ROBOTER UNSER VERTRAUEN MISSBRAUCHEN, David Jost

Die Entwicklung sozialer Roboter schreitet scheinbar unaufhaltsam voran. Immer besser können die Systeme mit Menschen interagieren und dringen dadurch immer tiefer in die menschliche Lebenswelt ein. Dies gelingt insbesondere deshalb, weil ihr Verhalten und Aussehen immer stärker an jenes des Menschen angeglichen wird. Wie in dem vorliegenden Artikel aufgezeigt wird, möchte man dadurch erzielen, dass Menschen zu den Robotern eine Beziehung aufbauen und ihnen jenes Vertrauen entgegenbringen, das eigentlich nur nahestehenden Menschen, wie Freund*innen oder Partner*innen vorbehalten ist. Wie deutlich werden wird, sind damit äußerst problematische Konsequenzen verbunden, denn es findet ein Vertrauensmissbrauch auf mehreren Ebenen statt.

EPISTEMISCHES VERTRAUEN UND MORALISCHE VERANTWORTUNG IN DER ÖFFENTLICHEN REDE WISSENSCHAFTLICHER EXPERTEN, Jon Leefmann

In diesem Aufsatz wird die Rolle epistemischen Vertrauens zwischen wissenschaftlichen Laien und Experten untersucht, insbesondere wie moralische Verantwortung die Dynamik dieses Vertrauens beeinflusst. Der Aufsatz analysiert, unter welchen Bedingungen die moralische Verantwortung der Experten für die Interessen der Laien relevant ist und wie normative Erwartungen das epistemische Vertrauen prägen. Im ersten Abschnitt wird ausgehend von der Unterscheidung zwischen Vertrauen und Sich-Verlassen argumentiert, dass epistemisches Vertrauen eine besondere moralische Dimension hat, die auf normativen Erwartungen basiert. Der zweite Abschnitt kritisiert die wissenschaftsphilosophische und sozialepistemologische Literatur dafür, diese moralische Dimension zu vernachlässigen, selbst wenn geteilte Wertvorstellungen diskutiert werden. Im dritten Abschnitt wird aufgezeigt, wie diese moralische Dimension als Bestandteil epistemischen Vertrauens gegenüber Experten betrachtet werden kann. Abschließend werden im vierten Abschnitt die spezifischen kommunikationsethischen Pflichten der wissenschaftlichen Experten erörtert, die sich aus diesem Vertrauensverständnis ergeben.

VERTRAUEN IN DER POLITISCHEN PHILOSOPHIE VON THOMAS HOBBES UND JOHN LOCKE, Peter Schröder

In der Frühen Neuzeit lässt sich eine anhaltende Diskussion über Vertrauen erkennen, in der Hobbes und Locke eine maßgebliche Rolle spielten. Dieser Beitrag erörtert, welchen konzeptionellen Status Vertrauen in ihrer jeweiligen Argumentation hatte. Beide sahen Vertrauen als grundlegend für ihre Überlegungen zu Staat und Gesellschaft an. Bei Hobbes und Locke lassen sich grundsätzliche und sehr unterschiedliche Positionen hinsichtlich der notwendigen Bedingungen für Vertrauen erkennen. So kann gezeigt werden, inwiefern Vertrauen einen wichtigen Platz unter den Konzepten des politischen Denkens im 17. Jahrhunderts einnahm. Das Verständnis des Stellenwerts von Vertrauen im politischen Denken von Hobbes und Locke ermöglicht ein besseres Verständnis ihrer unterschiedlichen Verwendungen und Konnotationen expliziter politischer und juristischer Konzepte wie Strafe, Souveränität oder Widerstand. Indem Locke sich mit Hobbes’ Argumentation auseinandersetzte, versuchte er, die Diskussion über Vertrauen in eine deutlich andere Richtung zu lenken. Während Hobbes durch die Schaffung einer absoluten souveränen Macht die Voraussetzungen für Frieden und Sicherheit schaffen wollte, warnte Locke vor einem starken Souverän. Hobbes stärkte den Souverän, Locke bis zu einem gewissen Grad das Volk.

 

 

Freie Beiträge

DER BLICK AUF DAS, WAS IST, Reinhold Esterbauer

Der Text reflektiert die Frage, wie heute an einer (katholisch-)theologischen Fakultät Philosophie betrieben werden sollte. Die im Aufsatz vertretene These besagt, dass es vor allem darum geht zu versuchen, trotz der Notwendigkeit von formalen und Methodenfragen die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu scheint es notwendig zu sein, Verkürzungen in der Sicht auf Wirklichkeit aufzudecken, besonders wenn notwendige methodische Reduktionismen in ontologische umzuschlagen drohen. Deshalb wird argumentiert, dass es gelte, Erfahrungsräume offenzuhalten, in denen die konkrete Lebenswelt nicht von vornherein als bloß vorwissenschaftlich oder epistemisch verdächtig gilt. Damit verbunden, so die These, sei auch die Abwertung des Menschen, beispielsweise in trans- oder posthumanistischen Vorstellungen oder in anthropologischen Modellen, die den Menschen als Maschine missverstehen. Schließlich plädiert der Autor dafür, den Menschen zu verteidigen, um schließlich nicht auch die Relevanz Gottes für die Philosophie zu verlieren.

WIE LOGISCH KANN MEDIZIN SEIN? Zur Phänomenologie medizinwissenschaftlicher Erkenntnis, Josef Lecheler

Seit Beginn des logischen Denkens in der Philosophie nehmen Ärzte eine Vorreiterrolle ein, die jedoch zweideutig ist. So ist Hippokrates einerseits ein Vorbild kritisch-wissenschaftlichen Denkens über die Medizin hinaus, andererseits erhebt er keinen Widerspruch dagegen, als Asklepiade bezeichnet zu werden, um die Lücken in der Erklärung der Endlichkeit des Lebens und unzureichendes Wissen zu kompensieren. Aristoteles lässt das nicht gelten, sein Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch lässt keine Ausnahme zu, erklärt damit aber auch nicht wesentliche Elemente medizinwissenschaftlicher Phänomene. Ebenso wie die klassische deduktive Logik zeigt aber auch die induktive Logik der Moderne, hier dargestellt an der utilitaristisch unterlegten Evidence Based Medicine, Schwächen in einer epistemisch kohärenten Erklärung des multikausalen und damit nur in Wahrscheinlichkeiten zu bemessenden Lebendigen. Die abduktive Logik in der Weiterentwicklung nach C.S. Pierce kommt womöglich in ihrer deliberativen Methode dem aktuellen Begriff der „ärztlichen Erfahrung“ näher, ohne sie jedoch vollständig zu erklären. Inwieweit der kantsche Ansatz der Zweckfremdheit der Logik oder die Widerspruchslehre Romano Guardinis offene Fragen befriedigt, bleibt ein Desiderat.

DAS PROBLEM DER FREIHEIT. Von Kants dritter Antinomie der reinen Vernunft, Susanna Machowinski

Ausgehend von den Grundbegriffen Immanuel Kants transzendentaler Elementarlehre wird Kants Auflösungsversuch der Freiheitsantinomie, wie er sie in der Kritik der reinen Vernunft darstellt, auf ihre innere Schlüssigkeit überprüft. Am Ende steht das Ergebnis, dass Kant zwar den Begriff der Kausalität durch Freiheit nicht so genau bestimmt hat, wie es möglich gewesen wäre, er jedoch mit dem Begriff der Ereigniskausalität vereinbar ist, insofern die Kausalität durch Freiheit dazu fähig ist, retrokausal zu wirken. Ferner wird eine weitere Hinsicht bestimmt, in der der Begriff Ereigniskausalität den der Kausalität durch Freiheit erfordert: In einer Welt, in der Ereigniskausalität der Fall wäre, wäre bedeutungsvolle Kommunikation nur dann möglich, wenn gleichzeitig Kausalität durch Freiheit der Fall wäre. Anschließend wird die Vereinbarkeit einer Kausalität durch Freiheit mit dem Weltbild der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins aufgezeigt. Die Plausibilität dieses Konzepts bleibt jedoch fraglich.

 

Rezensionen

Castellio, Sebastian (2024), De haereticis an sint persequendi (1554) – Von Ketzeren (1555) – Traicté des heretiques (1557), Synoptische Edition mit Kommentaren zu den Textauszügen, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer/Kilian Schindler
von Heinrich Schmidinger

Givsan, Hassan (2024), Atheismus – Einspruch gegen die Inhumanität des Theismus
von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

Klemme, Heiner F. (2023) Die Selbsterhaltung der Vernunft. Kant und die Modernität seines Denkens
von Christoph Böhr

Leidlmair, Karl (2024), Entheimatung. Der Ursprung des Denkens und das Denken seines Ursprungs
von Reinhard Margreiter

Philippi, Martina (2023), Selbstverständlichkeit und Problematisierung. Husserls Programm der Phänomenologie
von Franz Gmainer-Pranzl

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