Salzburger Jahrbuch für Philosophie 2022
SCHWERPUNKT – NATUR UND KULTUR
EIN NATURKULTURKALKÜL, Dirk Baecker
Der Beitrag versucht keine weitere Klärung der Begriffe der Natur und der Kultur, die als historische Begriffe undefinierbar geworden sind, sondern versucht eine Klärung der Unterscheidung dieser beiden Begriffe und der Funktion dieser Unterscheidung. Dieser Unterschied, so die Vermutung, definiert unterschiedliche Rückkopplungsschleifen innerhalb der Selbstorganisation sozialer Systeme. Der Beitrag konstruiert einen Kalkül der Handlung, der den Unterschied zwischen Natur und Kultur so formatiert, dass Notwendigkeit und Freiheit, Energie und Information, Zerfall und Strukturaufbau als die beiden Seiten einer Medaille zur Beschreibung einer sozialen Situation verstanden und erschlossen werden können. Abschließend wird diese Handlung, die als action auch in der Physik als Grundbegriff diskutiert wird, aus Talcott Parsons’ Handlungstheorie herausgelöst und mit den Mitteln des Formkalküls neu interpretiert.
THE SCIENCE IS CLEAR: CLIMATE ACTION NOW!, Martin Böhnert
Im Klimawandeldiskurs lässt sich eine Vorstellung von Wissenschaft ausmachen, die am pointiertesten in Slogans wie „The Science Is Clear: Climate Action Now!“ zum Ausdruck kommt: Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen aufgrund ihrer vorgestellten Eindeutigkeit auch gesellschaftspolitische Entscheidungen in eindeutiger Weise vorgeben. In einer solchen Erwartungshaltung schwingt auch eine schematische Vorstellung über die Verhältnisse von Natur und Kultur mit, bei der der Problemkomplex Klimakrise vorrangig als Umweltproblem repräsentiert wird und in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften fällt. Diese Verhältnissetzung gilt es kritisch zu reflektieren. Im ersten Teil werden entsprechend Grenzen eines naturwissenschaftlich-technisch dominierten Diskurses ausgelotet und problematisiert. Diese zeichnen sich insbesondere durch ein Paradigma der Kontrolle und eine durch Machtrelationen und epistemisches Disengagement bestimmte Auffassung der Klimakrise als rein wissenschaftlicher Sachverhalt aus. Der zweite Teil entwirft eine transformative und integrative Erweiterung dieser Matter of Fact-Repräsentation, welche entlang der Konzepte von Matters of Concern (Latour) und Matters of Care (Puig de la Bellacasa) entwickelt wird. Den Problemkomplex Klimakrise als eine Angelegenheit der Sorge, Besorgnis und Fürsorge zu repräsentieren, erlaubt einerseits den Einbezug und die Berücksichtigung vielfältiger und vielgestalteter Dimensionen im Modus der Teilnahme und bietet andererseits einen Brückenschlag, das Verhältnis von Natur und Kultur in der Klimakrise neu beurteilen zu können.
DIE SPANNUNG VON NATUR UND KULTUR IN KUNST UND ARCHITEKTUR, Bernhard Braun
Bei der Bewertung des Verhältnisses von Natur und Kultur aus der Sicht der Kunst und Architektur geht es nicht nur um die Betrachtung der Inszenierung eines solchen Verhältnisses in künstlerischer Arbeit und auch nicht um Rücksicht auf die natürlichen Ressourcen in einer nachhaltig gestalteten Architektur. Es geht vielmehr um das grundlegende Problem der Entstehung kultureller Erzählungen, die stets vom konstruktiven Blick des Menschen geprägt sind. Damit ist auch der Blick auf die Natur stets ein Blick auf eine anthropozentrisch verfasste Konstruktion, egal ob die zugehörige kulturelle Erzählung eher eine erdgebundene Charakteristik verfolgt oder eine solare, abstrakte. In dieser kulturgeschichtlichen Verschiebung spiegelt sich allenfalls eine Aufklärungsambition des Menschen. Genau an dieser Ambition kann man die Differenz der kunstphilosophischen Positionen von Hegel und Heidegger festmachen. Sie setzen in avancierten philosophischen Konzepten das um, was bereits am Beginn der Neuzeit im Streit um den geometrisch zugerichteten oder romantisch-wilden Garten wesentlich poetischer vorgespurt worden war.
UNTERWEGS ZUR ZWEITEN NATUR, Rüdiger Görner
Im Verhältnis von Natur und Kunst, genauer: der Kunst zur Natur entscheiden sich Kulturwerte. Zur intellektuellen Substanz der Kunst gehört wesentlich diese Relationalität. Bereits die Romantik fragte dabei nach der Existenz einer ‚zweiten Natur‘ als einer Alternative zum Nachahmungsgebot in der aristotelisch geprägten Ästhetik vor der sogenannten Geniezeit. Es ist eine Frage auch für unsere Zeit geblieben, inwieweit das – digitale – Simulat eine solche zweite Natur darstellen oder herstellen kann. Welchen (ästhetischen) Wert kann eine solche zweite Natur beanspruchen? Zu diesen Fragen weiß sich der nachfolgende Beitrag ‚unterwegs‘, wobei er die These verfolgt, dass das vielberufene ‚Andere‘ eine Konstruktion ist, die sich aus dem Geist der zur zweiten Natur sich stilisierenden Kunst speist. Zentral ist hierbei die Erörterung von Nietzsches Konzeption einer zweiten Natur, die sich als Kritik an der Nachahmung ebenso versteht wie als Vorverweis des Ahnens alternativer Daseinskonzeptionen. Bewusst diachronisch betrachtet der Beitrag danach Hölderlins Ode „Der gefesselte Strom“ eingehender als eine emblematische Dichtung, die das Eruptive als sprachkünstlerisches Artefakt und kulturkritischen Kommentar in lyrischer Form vorstellt. Zentral hierbei ist die These, dass die zweite Natur als Ableitung der natura naturata (und nicht der natura naturans)-Konzeption zu verstehen ist und damit als Fortentwicklung einer spinozistischen Differenzierungsform.
DAS ENDE DENKEN VON ALLEDEM, Uwe Meixner
Dieser Aufsatz klärt zunächst den basalen Begriff des Endens (in der Zeit), der auf Individuen bezogen ist, und analysiert, in welchem abgeleiteten Sinn auch Nichtindividuen – wie die lebende Natur, die Kultur, die Menschheit – enden können. Er wendet sich dann dem Ende von alledem – d.h. von lebender Natur, Kultur und Menschheit – zu und betrachtet einige prospektive Weisen mit diesem Ende umzugehen, das unausweichlich wie der Tod ist. Der Aufsatz endet aporetisch.
DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN NATUR UND KULTUR, Hans-Dieter Mutschler
Die Literatur zum Verhältnis Natur – Kultur scheint uferlos, sie im Rahmen eines Artikels zu behandeln aussichtslos. Das ist aber auch nicht die Absicht der folgenden Überlegungen, denn es geht hier nur um eine bestimmte Problematik, die in dieser Literatur immer wieder als eine ungelöste zutage tritt: das Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Legen wir den Akzent auf das evolutionäre Kontinuum, dann erscheint der Mensch als Tier unter Tieren und seine Kultur verschwindet im allgemeinen Naturzusammenhang. Legen wir den Akzent auf die Diskontinuität, dann scheint es, dass wir die Evolutionstheorie bestreiten müssen – ebenfalls wenig attraktiv. Lässt sich beides ohne Widerspruch zusammendenken?
DER NATUR-KULTUR-GEGENSATZ UND DIE STRATEGIE DER SEGREGATION, Michael Rosenberger
In den letzten Jahrzehnten ist eine intensive Debatte über die richtige Naturschutz-Strategie geführt worden: Lässt sich die Biodiversität besser über strenge Schutzgebiete (Segregation) oder über naturnahe Land- und Forstwirtschaft (Integration) erhalten? Hinter beiden Ansätzen stehen nicht nur ökologische und umweltpolitische, sondern auch philosophische und ethische Vorannahmen. Der Beitrag referiert wesentliche Positionen und Argumente der Debatte und analysiert sie sowohl vor dem Hintergrund ökologischer Erkenntnisse als auch philosophischer Erwägungen. Letztlich plädiert er für eine kluge und differenzierte Verbindung segregativer und integrativer Strategien, die sich durch eine christliche Schöpfungsspiritualität vertiefen und in einen weiteren Horizont stellen lassen.
TROTZ ALLEDEM: EINE VERTEIDIGUNG DER KLASSISCHEN UNTERSCHEIDUNG VON NATUR UND TECHNIK, Gregor Schiemann
In jüngster Zeit ist die Unterscheidung von Natur und Technik vermehrt infrage gestellt worden. Die durch Technik ermöglichten Veränderungen von Natur hätten ein solches Ausmaß angenommen, dass sich nicht mehr klar zwischen Natur und Technik differenzieren lasse. Gegenüber den kritischen Stimmen argumentiere ich für die Möglichkeit und Notwendigkeit, eine von mir als „klassisch“ bezeichnete Fassung der Unterscheidung anzuwenden. Ich beginne mit der Erörterung ausgewählter historischer Ursprünge dieser Unterscheidung und setze mich dabei mit einigen ihrer heute diskutierten Kritiker:innen – namentlich Hans Blumenberg, Bruno Latour, Donna Haraway und Philippe Descola – auseinander. Im nächsten Abschnitt führe ich einen Begriff des Hybrids von Natur und Technik ein, der sich zur Abgrenzung und Differenzierung des Anwendungsbereiches der klassischen Unterscheidung eignet. Den Begriff des Hybrids benötige ich außerdem, um die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen des Natur-Technik-Verhältnisses, die Thema des letzten Abschnittes sind, einzuschätzen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungstendenzen stelle ich abschließend einige Argumente zusammen, die für eine Aufrechterhaltung der klassischen Unterscheidung von Natur und Technik sprechen.
Freie Beiträge
„… DIE NOTWENDIGKEIT EINER PROFUNDEN TRANSFORMATION DER PHILOSOPHIE“ (RAÚL FORNET-BETANCOURT), Franz Gmainer-Pranzl
Der Philosoph Raúl Fornet-Betancourt fordert seit den 1990er Jahren eine „interkulturelle Transformation“ der Philosophie und strebt damit eine neue Gestalt von Philosophie an. Wichtige Kennzeichen dieses Ansatzes von Philosophie sind die Einbeziehung unterschiedlicher Stimmen und Traditionen, ein regulatives Verständnis von Universalität sowie Humanität als Prinzip des Philosophierens. Eine solche Transformation macht ernst damit, dass Philosophie in einer globalisierten Welt immer mehr zu einem interkulturellen Lernprozess werden muss.
DER GÖDELSCHE UNVOLLSTÄNDIGKEITSSATZ UND SEINE PHILOSOPHISCHEN IMPLIKATIONEN FÜR DIE BETRACHTUNG VON GEIST UND KÜNSTLICHER INTELLIGENZ, Christian Hugo Hoffmann
Im Zuge der an großer Bedeutung gewinnenden Geist-versus-Maschinen-Debatte durch den Aufstieg der Künstlichen Intelligenz in den letzten Jahren widmet sich dieses Paper den philosophischen Implikationen des für Mathematik und die theoretische Philosophie bahnbrechenden Beitrags des Logikers Kurt Gödel. Wir leisten dabei dreierlei: Erstens kommt es einer Hybris gleich zu denken, dass allein die Mathematik bestimmen könnte, wozu der menschliche Geist im Allgemeinen imstande ist und wozu nicht. Die Thesen, die Gödel, Lucas, Penrose und andere aus dem Unvollständigkeitssatz entwickeln, sind zweitens von stark idealisierten Annahmen sowohl über die Natur des menschlichen Geistes als auch über die Natur von Maschinen abhängig. Sofern Gödels wenige Äußerungen zu einer Philosophie des Geistes überhaupt zu einem kohärenten Ganzen verknüpft werden können, die dann zwar den Computerfunktionalismus zu überwinden trachtet, ihn aber nicht widerlegt, blieben wichtige Fragen offen, die in seinem Namen zu klären wären.
DIE PRINZIPIEN-FRAGE IN DER PHILOSOPHIE, Helmut Mai
Der vorliegende Aufsatz arbeitet im Durchgang durch die Philosophie-Geschichte vier Optionen zur Beantwortung der philosophischen Frage nach den Ursprungsprinzipien (archai) der Wirklichkeit heraus. Der Analytischen Philosophie werden drei dieser Optionen als Prinzipien-Hintergrund zugeordnet: Logik und Begriff, die Prinzipien der Physik und auch die Subjektivität. Mit diesen drei Prinzipien-Optionen als Hintergrund richtet sich die Analytische Philosophie als Begriffs-Technologie in der immanenten Sphäre komplett ein. Diese Entwicklung wurde von Heidegger als ein Zustand der „Eingeschlossenheit“ des Denkens diagnostiziert. Einen Weg zum Ausbruch aus dieser Eingeschlossenheit weisen Platons Ideen. In der „Politeia“ spricht Platon von Gott als dem Hersteller der Ideen und eröffnet so die vierte Prinzipien-Option in der Philosophie, die er dann im „Timaios“ und im kosmologisch-teleologischen Gottesbeweis der „Nomoi“ weiter ausbaut. Die Erneuerung des von Thomas von Aquin formulierten kosmologischen und teleologischen Gottesbeweises basiert auf der Wiederanerkennung unseres Realitätskontaktes und des Satzes vom Grund. Dazu kommt die Durchdringung der Realität mit mathematischen Strukturen, die die moderne Wissenschaft bezeugt, und das Faktum der Technologie, das für eine Voll-Schöpfung der Materie im Sinne der biblischen „Genesis“ spricht.
Rezensionen
Di Cesare, Donatella (2021), Philosophie der Migration
von Franz Gmainer-Pranzl
Kierkegaard, Sören (2021), Journale und Aufzeichnungen – Journale NB15 – NB20, Deutsche Søren Kierkegaard Edition, Bd. 7
von Heinrich Schmidinger
Müller, Klaus (2021), Gott jenseits von Gott. Plädoyer für einen kritischen Panentheismus
von Uwe Voigt
Perler, Dominik (2020), Eine Person sein. Philosophische Debatten im Spätmittelalter
von Emmanuel J. Bauer
Rathmann, Joachim/Voigt, Uwe (Hg.) (2021), Natürliche und künstliche Intelligenz im Anthropozän
von Pia Wimmer
Rosenberger, Michael (2021), Eingebunden in den Beutel des Lebens. Christliche Schöpfungsethik
von Johanna Sacherl
Salzberger, Florian (2016)‚ „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Hannah Arendts Philosophie des Umgangs im Anschluss an die Narrativitätskonzeption ihres Spätwerks
von Rolf Darge
Schellhammer, Barbara (Hg.) (2021), Zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse – im interdisziplinären Gespräch mit Bernhard Waldenfels
von Gerhard Weinberger
